Anežka – Hanišová Viktorie (2015)

Wir suchen uns unsere Eltern nicht aus. Manchmal suchen wir uns unsere Kinder aus. Viktorie Hanišovás Romandebüt enthüllt die tragischen Folgen einer solchen Fehlentscheidung. Die selbstbewusste, gebildete und weltgewandte Julie kann keine Kinder bekommen und hat ohne Partner keinen Anspruch auf eine Adoption, während ihre biologische Uhr tickt. Der Traum von der kleinen Anežka, einem blonden Püppchen mit Zöpfen, wird allmählich zu einem unerfüllten Traum, doch die verzweifelte Julie wünscht sich unbedingt ein Kind. Sie navigiert durch Behörden und Gesetze und nimmt Agnes, ein ungewolltes Roma-Kind, bei sich auf. Doch Julie wollte nur ein Baby, Anežka, nicht ein Bündel ihrer eigenen Vorurteile, nicht die Verkörperung eines wunden Punktes der tschechischen Gesellschaft, den sie sich nicht ausgesucht hat. Sie beginnt zu lügen. Zuerst andere, später sogar sich selbst. Und Agnes wächst auf im ständigen Kampf mit den Vorstellungen anderer von ihr. Den Lesern wird ein schmerzlich alltäglicher Einblick in die bereits gestörte Beziehung zwischen Mutter und Tochter gewährt, die von der kleinbürgerlichen Angst der einen und der Unmöglichkeit der anderen, sich aus dem Käfig der Stereotype zu befreien, geprägt ist. Der Roman ist im Realismus verankert. Der Niedergang der Hauptfigur vollzieht sich nicht in Form eines umgekehrten Bildungsromans, sondern als eine gewöhnliche und umso tragischere Kette alltäglicher Fehltritte, die jedem widerfahren können.